von: Flori
Re: Rieseln stocken fließen - 24.06.25 09:58
Triage
Durch den Gang schwappen
die Neuzugänge herein, die Ärztinnen,
das Pflege- und Laborpersonal
Betten fahren ins Röntgen,
ein Rollstuhl wird gebracht,
Krücken und Schläuche,
nicht für mich
Wir liegen am rechten Ufer,
ich und andere Angeschwemmte,
eine lange Reihe von Betten
An der Wand ein Schild
Darauf steht Triage
Wir sind dran, wenn's passt
Auf der linken Seite tun sich Buchten auf,
doppelt belegte Zimmer
(zwischen den Betten ein Vorhang)
für Patienten, die ohne Frage
mit Vorrang zu behandeln
aufgrund ihres Zustands
Übrig
Sie haben mich in der Not
aufgenommen, so richtig gern
bin ich nicht mitgefahren,
aber was blieb mir übrig
Ich lag fünf Stunden auf Triage,
völlig zurecht,
allen anderen ging es schlechter,
obwohl der Alkohol langsam nachließ, und
Schmerzmittel fand ich dann doch übertrieben
Ich wollte hören, ob die
Beule nur eine Beule ist
Ich lag lange Zeit auf dem langen Gang
und hörte Gespräche,
die ich lieber nicht gehört hätte
Verstehen Sie mich? war der häufigste Satz
Ärztlicher Rat
Verstehen Sie mich?
Ist ihr Mann dement?
Wenn Sie ihn nicht
allein lassen können
müssen wir ihn
eben herbringen
Hat der Pflegedienst einen Schlüssel?
Verstehen Sie mich?
Sie müssen entscheiden,
ob Sie bleiben oder gehen,
das kann ich Ihnen
nicht abnehmen
Ich kann nur empfehlen
Es wäre besser, wenn Sie bleiben
Es besteht die Gefahr
einer Blutvergiftung
Verstehen Sie mich?
Heilwasser intravenös
Die Jungs vom ASB
legen mir eine Infusion,
Kochsalzlösung angeblich,
in Wirklichkeit sicherlich
Wasser aus dem Solebrunnen,
das der Stadt den Namen gab
Pfleger Jan bringt mir
einen Beutel mit Eiswürfeln,
isoliert durch ein Haarnetz
Nach ein paar Stunden
leckt Heilwasser aufs Laken
und auf mein T-Shirt mit den
blauen und weißen Streifen
Es hat geholfen, ich kann
wieder aufstehn, hallo Jan,
ich müsste mal aufs Klo
Temperament
Die Notaufnahme quillt über
Pfleger*innen eilen von Bett
zu Bett, kurze Rücksprache,
Dateneingabe mitten im Gang,
manche, je nach Temperament,
stöhnen oder seufzen
heute wieder, nicht zu glauben,
aber was hilft's und weiter,
andere arbeiten schweigend
Der Damm bricht, die Worte
treiben ab: Schreien Sie mich
nicht an, schreit die Pflegerin
Wir versuchen, Ihnen zu helfen
Der Pöbler stammt von meiner Seite,
rechter Rand, Triage, ganz vorn
Ich liege schon sechs Stunden hier,
brüllt er, Sie könnten tot sein,
hört er, glaubt es vielleicht
nicht, denn er entlässt sich,
humpelt betont aufrecht hinaus,
braungebrannt, Hemd offen bis zum
Bauchnabel, letztes Wort: Saustall
Pfleger*innen
Sie hasten vorbei oder bleiben
gegenüber stehen, sagen kurze Sätze
Ich rate, woher sie kommen
Einige reden schwäbisch
die anderen sind schwieriger
Beispielsweise
die Pflegerin mit dem Seidenhaar
Ihre Eltern kamen über die Seidenstraße,
rede ich mir ein
Es ist nicht der Moment,
originell zu sein
Sie nimmt mir noch mal Blut ab
Ich kann sie schlecht fragen
Ich erfinde Vorgeschichten
zu den Gesichtern
Einsame Kindheit
oder viele Geschwister,
an der Schule in Mannheim,
Farah oder Vyškov
Die Eltern geflohen
vor Repressionen
oder haben sie verhängt
Hoffnung auf Freiheit,
um zu entscheiden,
was du tust und was du sagst
Wer du bist
Ich könnte weitermachen,
aber das ist alles falsch
oder, und das wär
auch nicht besser,
nur zufällig richtig
Vor der Notaufnahme
nachts um halb zwei
beim Warten aufs Taxi
ihre Gesichter ein letztes Mal
Rauchpause, sie sehen mich
nicht an, ich gebe mir Mühe,
sie auch nicht zu sehen
Der Taxifahrer
ist fremd in Heilbronn, aber
er hat zwei Google Pixel,
mit denen unterhält er sich
in der Fremdsprache Deutsch
weisen sie ihm den Weg
Entlassen
Gegen ein Uhr die Diagnose
und Empfehlung, zwei Tage
nicht radzufahren
Der Arzt hat kein Verständnis,
als ich mich anschließend
selbst entlasse,
statt noch eine Stunde
auf seinen Arztbrief
zu warten
Ich sei angespannt, sagt er
Höre ich da einen
persischen Akzent?
Aber es stimmt, er will
über Schwindel reden,
ich nur über die Beule
Eine seiner Fragen
deute ich falsch,
geht es um Röntgen oder CT?
Ich sei verwirrt, sagt er,
ob ich Probleme hätte
beim Verstehen der Worte?
Ich sage nein, es ist spät,
ich sage, etwas Schlaf
wär vielleicht gut für die Heilung,
aber ich sage nichts
über seinen Satzbau
Haltestelle
Dieser Zug endet heute außerplanmäßig
in Neckargemünd, alle hasten zur S-Bahn
nach Heidelberg, wir setzen uns ins Eis-Café
Roma, gelbe Neonschrift vor schwarzen Fliesen,
Kulisse für einen Film von
Fellini, in Rom regnet's
Ein E-Radfahrer im Poncho passiert
Da kommt ein Fußgänger mit einem Mantel,
in der Mühlgasse muss ein Radladen sein,
Schwalbe Marathon, unplattbar
Drüben an der Haltestelle
wartet schon der Bus
nach Mückenloch Friedhof
Morgensonne
Halb fünf in Ziegelhausen
Die ersten Strahlen der Morgensonne
quetschen sich am Vorhang vorbei,
wecken mich
Ich lausche den unbekannten Geräuschen
der Hühner, einer Baumaschine irgendwo,
in meinen Kopf, Rinnsale
finden sich
Es gibt ein Zieglberg im Landkreis Dachau,
einen Ort mit sieben Häusern
und einer Aussichtsbank,
von der du ganz München überblickst,
die Frauentürme, die Versicherungsarena,
das Heizkraftwerk in Sendling
und dahinter das Karwendel
bei Föhn ganz nah
Ich liege wach in Ziegelhausen, Ortsteil von Heidelberg,
in einer Ferienwohnung mit Aussicht
über ganz Ziegelhausen, hinter dem Vorhang,
und denke an Zieglberg und seine Aussichtsbank,
auf der steht: nur für Zieglberger
Ich sitze in der
verdunkelten Küche
schreibe nahezu
unsichtbare Wörter
auf Leuchtturm-Papier
Heute ist nicht der Tag,
da ich mich
aus dem Staub mache
und verdunste
Durch den Gang schwappen
die Neuzugänge herein, die Ärztinnen,
das Pflege- und Laborpersonal
Betten fahren ins Röntgen,
ein Rollstuhl wird gebracht,
Krücken und Schläuche,
nicht für mich
Wir liegen am rechten Ufer,
ich und andere Angeschwemmte,
eine lange Reihe von Betten
An der Wand ein Schild
Darauf steht Triage
Wir sind dran, wenn's passt
Auf der linken Seite tun sich Buchten auf,
doppelt belegte Zimmer
(zwischen den Betten ein Vorhang)
für Patienten, die ohne Frage
mit Vorrang zu behandeln
aufgrund ihres Zustands
Übrig
Sie haben mich in der Not
aufgenommen, so richtig gern
bin ich nicht mitgefahren,
aber was blieb mir übrig
Ich lag fünf Stunden auf Triage,
völlig zurecht,
allen anderen ging es schlechter,
obwohl der Alkohol langsam nachließ, und
Schmerzmittel fand ich dann doch übertrieben
Ich wollte hören, ob die
Beule nur eine Beule ist
Ich lag lange Zeit auf dem langen Gang
und hörte Gespräche,
die ich lieber nicht gehört hätte
Verstehen Sie mich? war der häufigste Satz
Ärztlicher Rat
Verstehen Sie mich?
Ist ihr Mann dement?
Wenn Sie ihn nicht
allein lassen können
müssen wir ihn
eben herbringen
Hat der Pflegedienst einen Schlüssel?
Verstehen Sie mich?
Sie müssen entscheiden,
ob Sie bleiben oder gehen,
das kann ich Ihnen
nicht abnehmen
Ich kann nur empfehlen
Es wäre besser, wenn Sie bleiben
Es besteht die Gefahr
einer Blutvergiftung
Verstehen Sie mich?
Heilwasser intravenös
Die Jungs vom ASB
legen mir eine Infusion,
Kochsalzlösung angeblich,
in Wirklichkeit sicherlich
Wasser aus dem Solebrunnen,
das der Stadt den Namen gab
Pfleger Jan bringt mir
einen Beutel mit Eiswürfeln,
isoliert durch ein Haarnetz
Nach ein paar Stunden
leckt Heilwasser aufs Laken
und auf mein T-Shirt mit den
blauen und weißen Streifen
Es hat geholfen, ich kann
wieder aufstehn, hallo Jan,
ich müsste mal aufs Klo
Temperament
Die Notaufnahme quillt über
Pfleger*innen eilen von Bett
zu Bett, kurze Rücksprache,
Dateneingabe mitten im Gang,
manche, je nach Temperament,
stöhnen oder seufzen
heute wieder, nicht zu glauben,
aber was hilft's und weiter,
andere arbeiten schweigend
Der Damm bricht, die Worte
treiben ab: Schreien Sie mich
nicht an, schreit die Pflegerin
Wir versuchen, Ihnen zu helfen
Der Pöbler stammt von meiner Seite,
rechter Rand, Triage, ganz vorn
Ich liege schon sechs Stunden hier,
brüllt er, Sie könnten tot sein,
hört er, glaubt es vielleicht
nicht, denn er entlässt sich,
humpelt betont aufrecht hinaus,
braungebrannt, Hemd offen bis zum
Bauchnabel, letztes Wort: Saustall
Pfleger*innen
Sie hasten vorbei oder bleiben
gegenüber stehen, sagen kurze Sätze
Ich rate, woher sie kommen
Einige reden schwäbisch
die anderen sind schwieriger
Beispielsweise
die Pflegerin mit dem Seidenhaar
Ihre Eltern kamen über die Seidenstraße,
rede ich mir ein
Es ist nicht der Moment,
originell zu sein
Sie nimmt mir noch mal Blut ab
Ich kann sie schlecht fragen
Ich erfinde Vorgeschichten
zu den Gesichtern
Einsame Kindheit
oder viele Geschwister,
an der Schule in Mannheim,
Farah oder Vyškov
Die Eltern geflohen
vor Repressionen
oder haben sie verhängt
Hoffnung auf Freiheit,
um zu entscheiden,
was du tust und was du sagst
Wer du bist
Ich könnte weitermachen,
aber das ist alles falsch
oder, und das wär
auch nicht besser,
nur zufällig richtig
Vor der Notaufnahme
nachts um halb zwei
beim Warten aufs Taxi
ihre Gesichter ein letztes Mal
Rauchpause, sie sehen mich
nicht an, ich gebe mir Mühe,
sie auch nicht zu sehen
Der Taxifahrer
ist fremd in Heilbronn, aber
er hat zwei Google Pixel,
mit denen unterhält er sich
in der Fremdsprache Deutsch
weisen sie ihm den Weg
Entlassen
Gegen ein Uhr die Diagnose
und Empfehlung, zwei Tage
nicht radzufahren
Der Arzt hat kein Verständnis,
als ich mich anschließend
selbst entlasse,
statt noch eine Stunde
auf seinen Arztbrief
zu warten
Ich sei angespannt, sagt er
Höre ich da einen
persischen Akzent?
Aber es stimmt, er will
über Schwindel reden,
ich nur über die Beule
Eine seiner Fragen
deute ich falsch,
geht es um Röntgen oder CT?
Ich sei verwirrt, sagt er,
ob ich Probleme hätte
beim Verstehen der Worte?
Ich sage nein, es ist spät,
ich sage, etwas Schlaf
wär vielleicht gut für die Heilung,
aber ich sage nichts
über seinen Satzbau
Haltestelle
Dieser Zug endet heute außerplanmäßig
in Neckargemünd, alle hasten zur S-Bahn
nach Heidelberg, wir setzen uns ins Eis-Café
Roma, gelbe Neonschrift vor schwarzen Fliesen,
Kulisse für einen Film von
Fellini, in Rom regnet's
Ein E-Radfahrer im Poncho passiert
Da kommt ein Fußgänger mit einem Mantel,
in der Mühlgasse muss ein Radladen sein,
Schwalbe Marathon, unplattbar
Drüben an der Haltestelle
wartet schon der Bus
nach Mückenloch Friedhof
Morgensonne
Halb fünf in Ziegelhausen
Die ersten Strahlen der Morgensonne
quetschen sich am Vorhang vorbei,
wecken mich
Ich lausche den unbekannten Geräuschen
der Hühner, einer Baumaschine irgendwo,
in meinen Kopf, Rinnsale
finden sich
Es gibt ein Zieglberg im Landkreis Dachau,
einen Ort mit sieben Häusern
und einer Aussichtsbank,
von der du ganz München überblickst,
die Frauentürme, die Versicherungsarena,
das Heizkraftwerk in Sendling
und dahinter das Karwendel
bei Föhn ganz nah
Ich liege wach in Ziegelhausen, Ortsteil von Heidelberg,
in einer Ferienwohnung mit Aussicht
über ganz Ziegelhausen, hinter dem Vorhang,
und denke an Zieglberg und seine Aussichtsbank,
auf der steht: nur für Zieglberger
Ich sitze in der
verdunkelten Küche
schreibe nahezu
unsichtbare Wörter
auf Leuchtturm-Papier
Heute ist nicht der Tag,
da ich mich
aus dem Staub mache
und verdunste