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#1570672 - 24.06.25 09:57 Rieseln stocken fließen
Flori
Mitglied
Themenersteller
abwesend abwesend
Beiträge: 1.083
Dauer:7 Tage
Zeitraum:31.5.2025 bis 6.6.2025
Entfernung:220 Kilometer
Bereiste Länder:deDeutschland

Vorbereitung
Der peinliche Moment:
Du öffnest ein altes Notizbuch
und begegnest auf wenigen
beschriebenen Seiten
einem früheren Selbst


Das Ziel
Ein Neffe hat Nicole einen Gutschein geschenkt,
für unseren Lieblingswinzer in Wiesbaden,
kam per Einschreiben, mit Stempel
und Unterschrift, einzulösen, das ergibt
telefonische Nachfrage, ausschließlich vor Ort
Das konnte der Neffe nicht ahnen,
er ist Mitte 20 und benutzt sein Smartphone
wie ich meinen Hausschlüssel

Also dann:
Wir haben eine Woche Zeit,
wir haben jeder ein
Deutschland-Ticket und ein
Brompton-Fahrrad

Wir haben noch mehr vor:
Aus Heidelberg kommen taschentaugliche
Füller von Kaweco, das wär was für mich

Nicole studiert das Mainzer Kulturprogramm,
am Donnerstag spielt ihre Lieblingsband,
oder zumindest deren Sänger und Texter
Fortuna Ehrenfeld – Solo am Klavier


Übers Land
Um den Morgen nicht in vollen Zügen
zu verderben, folgen wir bekannten
Straßen, faltradeln
über Odelzhausen –
kurz stinkt es, als wir
die Autobahn queren –
nach Mering zum Bahnhof
mitten im Irgendwo

Früher standen in manchen Vorgärten
lustige Zwerge aus Ton
Jetzt stehen da Masten

Flagge zeigen nicht mehr
nur Schiffe und Rathäuser
Deutschlandfahnen sind unheimlich
praktisch für die Navigation,
weil du jederzeit weißt,
in welchem Land du bist

Unsere Fahne, ich fühle mich mitgemeint
Wir alle sollten, wo wir schon mal da sind,
und obendrein hab ich das Ticket im Abo

Im Zug stehe ich bei 2 Jungs
mit Gelfrisur ohne Räder im Radabteil,
die keine Farben tragen außer Weiß und Schwarz
Sie schauen bunte Clips, und wenn sie
einen guten finden, strecken sie dem anderen
den Bildschirm hin, damit der auch was davon hat

Ich würde ihnen gern
einen Satz ablauschen,
ins Notizbuch schreiben,
aber sie sprechen so leise
und ihre Sprache
beherrsche ich nicht

Umstieg in Ulm, endlich Neuigkeiten
auf der Bank vor uns
Der Dennis ist in Stuttgart
Das gibt's doch nicht,
den müssen wir kurz treffen,
aber nur kurz

Und ich hätte nur eine Frage,
Dennis mit s oder mit z


Esslingen
Die Tauben turteln, die Tauben kacken in den Hammerkanal
Die Tauben flattern ganz nah vorbei,
ich spüre den Luftstrom

Taubennadeln verhindern
eine Landung auf dem Balken
zwischen Hotel und Hammermühle

Ich glaube, es sind
Türkentauben,
ja, so heißen die,
obwohl in Schwaben geschlüpft

Zwischen den Kaffeetassen ein Topf Rosmarin
Am Nebentisch hustet ein Raucher
Und immer noch kein Wort

Ich schau in die Zeitung,
hol mir da einen Satz:
Alles ist offen

Tag der offenen Tür
Alles ist offen, nicht nur die Tür,
der Arsch und der Tisch,
der Ausgang, die Flasche,
die Stellen, die Worte,
der Ofen, Gespräche

Nur ich mach zu, ehrlich,
ich mag nicht, ich
verschließe mich
Mein Vorbild
die Miesmuschel

Zufrieden klappe ich das Buch zu
Da lässt sich was draus machen,
denke ich, eines Tages


Das Dick
Ironie, wer schätzt sie nicht,
zumal auf Seiten des Kapitals
Hier wurde früher malocht
im Schatten des Schornsteins
jetzt Freizeit- und Erlebniscenter


Rebellion
Neben einer Steinbank
stehen stramm in Zweierreihe
acht leere Flaschen Sekt
der falschen Marke, Rotkäppchen
von der Unstrut

Gläsernen Soldaten
mit roten Rebellenmützen,
aufmarschiert im Herzen
des Imperiums, denn

in Esslingen am Neckar
sitzt unübersehbar
Deutschlands älteste Sektkellerei et cetera,
keine Straße ohne den Namen,
ohne Ausschank oder Laden
oder als Sponsor


Ein Tag am Neckar
Wie beschreibst du einen Fluss,
die Muster der Strömung,
die Kringel und Wirbel,
Akanthusblätter, Notenschlüssel,
die Linien, die Weichen,
rotierende Speichen,
tausend Wollknäuel
rollen vom Hügel,
im Schaum lassen Schlitten
spleißende Spuren,
schmelzen schon wieder

Oder du schilderst dein Spiegelbild,
matt und faltig in den Tiefen,
oder schreibst auf, was der Fluss erzählt,
Geschichten vom Sterben und Lieben

Aber wer ist damit beschrieben?


Schauer
Im Regen unter der Brücke
mit einem Crosser
und einer Influencerin
Der Crosser wartet
mit gekreuzten Armen
Die Influencerin
filmt den Regen
und sich


Begrüßung in Heilbronn
Der achtzigjährige Autofahrer
winkt mir nonchalant,
der die Vorfahrt übersehen hat

Mich trifft
die verdrängte Luft
seiner Stoßstange

Er winkt nicht gleich, er
studiert vorher noch mal die Schilder



Auf der Neckarbühne
Weinpavillon an der Neckarbühne,
Kiosk und Bar, ein Strom an Stimmen
Ich schalte die Wellenlängen durch,
filtere das Rauschen aus

Hierarchisch ist mein Problemwort

Das fängt schon mal gut an
Ich kenne auch solche Wörter,
die ich kaum aussprechen kann,
zum Beispiel
Zustrombegrenzungsgesetz

Was läuft auf dem anderen Kanal?

Irgendwann kamen wir dann aufs Alter
er hat das richtig plastisch erzählt


Ach nein, vielleicht zu plastisch
Ich drehe weiter

Wir haben so viel gelacht
weil der so einen Humor hat
Slapsticks hat er eingebaut
über seine Frau und so
Das war dermaßen lustig
Seine Frau war sauer


Der Abräumer kommt, die Gläser abzuräumen
Was schreibt der denn da, fragt der Abräumer
Das wenn wir wüssten, sagt Nicole
Urlaubserinnerungen, sage ich

Und dann habe ich selbst meinen Auftritt


Unterbrechung des Kreislaufs
Ich schlürfe am zweiten Glas Wein,
ziehe das Bein unter den Stuhl,
spüre einen Krampf im Oberschenkel,
springe auf, so schnell
kann mein Kreislauf nicht im Kreis laufen
Ich gehe einmal um den Tisch,
spüre den Schwindel,
ich kenne ihn seit langem,
ich müsste mich
auf den Boden legen,
aber ich lege mich nicht

Ich falle wie ein Schlagbaum.

An einem schwülen Juniabend
kollabiere ich
coram publico auf der Neckarbühne
Ein Ersthelfer beschreibt mir später
das Geräusch des Aufpralls, mein Kopf
gegen das Pflaster

Er trug keinen Helm
beim Weintrinken
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#1570673 - 24.06.25 09:58 Re: Rieseln stocken fließen [Re: Flori]
Flori
Mitglied
Themenersteller
abwesend abwesend
Beiträge: 1.083
Triage
Durch den Gang schwappen
die Neuzugänge herein, die Ärztinnen,
das Pflege- und Laborpersonal
Betten fahren ins Röntgen,
ein Rollstuhl wird gebracht,
Krücken und Schläuche,
nicht für mich

Wir liegen am rechten Ufer,
ich und andere Angeschwemmte,
eine lange Reihe von Betten
An der Wand ein Schild
Darauf steht Triage
Wir sind dran, wenn's passt

Auf der linken Seite tun sich Buchten auf,
doppelt belegte Zimmer
(zwischen den Betten ein Vorhang)
für Patienten, die ohne Frage
mit Vorrang zu behandeln
aufgrund ihres Zustands


Übrig
Sie haben mich in der Not
aufgenommen, so richtig gern
bin ich nicht mitgefahren,
aber was blieb mir übrig

Ich lag fünf Stunden auf Triage,
völlig zurecht,
allen anderen ging es schlechter,
obwohl der Alkohol langsam nachließ, und
Schmerzmittel fand ich dann doch übertrieben

Ich wollte hören, ob die
Beule nur eine Beule ist

Ich lag lange Zeit auf dem langen Gang
und hörte Gespräche,
die ich lieber nicht gehört hätte

Verstehen Sie mich? war der häufigste Satz


Ärztlicher Rat
Verstehen Sie mich?
Ist ihr Mann dement?

Wenn Sie ihn nicht
allein lassen können
müssen wir ihn
eben herbringen

Hat der Pflegedienst einen Schlüssel?

Verstehen Sie mich?
Sie müssen entscheiden,
ob Sie bleiben oder gehen,
das kann ich Ihnen
nicht abnehmen

Ich kann nur empfehlen
Es wäre besser, wenn Sie bleiben
Es besteht die Gefahr
einer Blutvergiftung

Verstehen Sie mich?



Heilwasser intravenös
Die Jungs vom ASB
legen mir eine Infusion,
Kochsalzlösung angeblich,
in Wirklichkeit sicherlich
Wasser aus dem Solebrunnen,
das der Stadt den Namen gab

Pfleger Jan bringt mir
einen Beutel mit Eiswürfeln,
isoliert durch ein Haarnetz
Nach ein paar Stunden
leckt Heilwasser aufs Laken
und auf mein T-Shirt mit den
blauen und weißen Streifen

Es hat geholfen, ich kann
wieder aufstehn, hallo Jan,
ich müsste mal aufs Klo


Temperament
Die Notaufnahme quillt über
Pfleger*innen eilen von Bett
zu Bett, kurze Rücksprache,
Dateneingabe mitten im Gang,
manche, je nach Temperament,
stöhnen oder seufzen
heute wieder, nicht zu glauben,
aber was hilft's
und weiter,
andere arbeiten schweigend

Der Damm bricht, die Worte
treiben ab: Schreien Sie mich
nicht an
, schreit die Pflegerin
Wir versuchen, Ihnen zu helfen

Der Pöbler stammt von meiner Seite,
rechter Rand, Triage, ganz vorn
Ich liege schon sechs Stunden hier,
brüllt er, Sie könnten tot sein,
hört er, glaubt es vielleicht
nicht, denn er entlässt sich,
humpelt betont aufrecht hinaus,
braungebrannt, Hemd offen bis zum
Bauchnabel, letztes Wort: Saustall


Pfleger*innen
Sie hasten vorbei oder bleiben
gegenüber stehen, sagen kurze Sätze
Ich rate, woher sie kommen
Einige reden schwäbisch
die anderen sind schwieriger

Beispielsweise
die Pflegerin mit dem Seidenhaar
Ihre Eltern kamen über die Seidenstraße,
rede ich mir ein
Es ist nicht der Moment,
originell zu sein
Sie nimmt mir noch mal Blut ab

Ich kann sie schlecht fragen
Ich erfinde Vorgeschichten
zu den Gesichtern

Einsame Kindheit
oder viele Geschwister,
an der Schule in Mannheim,
Farah oder Vyškov
Die Eltern geflohen
vor Repressionen
oder haben sie verhängt

Hoffnung auf Freiheit,
um zu entscheiden,
was du tust und was du sagst
Wer du bist

Ich könnte weitermachen,
aber das ist alles falsch
oder, und das wär
auch nicht besser,
nur zufällig richtig

Vor der Notaufnahme
nachts um halb zwei
beim Warten aufs Taxi
ihre Gesichter ein letztes Mal
Rauchpause, sie sehen mich
nicht an, ich gebe mir Mühe,
sie auch nicht zu sehen

Der Taxifahrer
ist fremd in Heilbronn, aber
er hat zwei Google Pixel,
mit denen unterhält er sich
in der Fremdsprache Deutsch
weisen sie ihm den Weg


Entlassen
Gegen ein Uhr die Diagnose
und Empfehlung, zwei Tage
nicht radzufahren

Der Arzt hat kein Verständnis,
als ich mich anschließend
selbst entlasse,

statt noch eine Stunde
auf seinen Arztbrief
zu warten

Ich sei angespannt, sagt er
Höre ich da einen
persischen Akzent?

Aber es stimmt, er will
über Schwindel reden,
ich nur über die Beule

Eine seiner Fragen
deute ich falsch,
geht es um Röntgen oder CT?

Ich sei verwirrt, sagt er,
ob ich Probleme hätte
beim Verstehen der Worte?

Ich sage nein, es ist spät,
ich sage, etwas Schlaf
wär vielleicht gut für die Heilung,

aber ich sage nichts
über seinen Satzbau


Haltestelle
Dieser Zug endet heute außerplanmäßig
in Neckargemünd, alle hasten zur S-Bahn
nach Heidelberg, wir setzen uns ins Eis-Café
Roma
, gelbe Neonschrift vor schwarzen Fliesen,
Kulisse für einen Film von
Fellini, in Rom regnet's

Ein E-Radfahrer im Poncho passiert
Da kommt ein Fußgänger mit einem Mantel,
in der Mühlgasse muss ein Radladen sein,
Schwalbe Marathon, unplattbar

Drüben an der Haltestelle
wartet schon der Bus
nach Mückenloch Friedhof


Morgensonne
Halb fünf in Ziegelhausen
Die ersten Strahlen der Morgensonne
quetschen sich am Vorhang vorbei,
wecken mich
Ich lausche den unbekannten Geräuschen
der Hühner, einer Baumaschine irgendwo,
in meinen Kopf, Rinnsale
finden sich

Es gibt ein Zieglberg im Landkreis Dachau,
einen Ort mit sieben Häusern
und einer Aussichtsbank,
von der du ganz München überblickst,
die Frauentürme, die Versicherungsarena,
das Heizkraftwerk in Sendling
und dahinter das Karwendel
bei Föhn ganz nah

Ich liege wach in Ziegelhausen, Ortsteil von Heidelberg,
in einer Ferienwohnung mit Aussicht
über ganz Ziegelhausen, hinter dem Vorhang,
und denke an Zieglberg und seine Aussichtsbank,
auf der steht: nur für Zieglberger

Ich sitze in der
verdunkelten Küche
schreibe nahezu
unsichtbare Wörter
auf Leuchtturm-Papier

Heute ist nicht der Tag,
da ich mich
aus dem Staub mache
und verdunste

Geändert von Flori (24.06.25 10:01)
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#1570963 - vor 10 h Re: Rieseln stocken fließen [Re: Flori]
Flori
Mitglied
Themenersteller
abwesend abwesend
Beiträge: 1.083
Das richtige Werkzeug

Durch Heidelberg laufen wir
mit den anderen Touristen
Heidelberg, der Hotspot im Westen
In Heidelberg ist kein Cowboy allein
You need the right shoes for this
I've got the right shoes for this
und noch im kleinsten
Schreibwarenladen der Welt
gehen laufend Patronen über den Tisch

Stahl, Alu oder Plastik?
Ich schreibe zur Probe
mit allen Materialien,
mit diversen Federstärken,
entscheide mich für Messing, schwer
wie eine Rolle Zehnpfennigmünzen,
riecht auch so, ruht in der
Hosentasche wie ein Anker
aber aufs Papier drückt er,
als ob er von selbst schreiben will,
ein Gaul, der Auslauf braucht

In den Füller passt genau eine Patrone,
ein Schluck Tinte, königsblau
Königlich fühle ich mich nicht,
bin froh, wenn ich meine
Handschrift lesen kann

Eine Eitelkeit ist ohne Zweifel
die Gravur, der eigene
Name in Messing –
wie im Holz des Heidelberger Fasses
die Namen der Touristen
der letzten 400 Jahre
Was half es ihnen,
sie hatten doch keine Zeit,
all den Wein zu trinken


Auslöser
Einen Fluss kannst du nicht
vernünftig fotografieren
Einem Fluss auf einem Bild
fehlt etwas
Er steht still

Na klar kannst du
einen Fluss knipsen
Probier's einfach
Die Bewegung entsteht
im Auge des Betrachters

Also wär es das Ziel
des Fotografen,
die Vorstellung anzustoßen,
beim Betrachter
etwas auszulösen?

Ich finde, ein wirklich
vollendetes Foto
müsste belegen:
Hier wendet das Wasser,
quillt wieder bergauf
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#1570964 - vor 10 h Re: Rieseln stocken fließen [Re: Flori]
Flori
Mitglied
Themenersteller
abwesend abwesend
Beiträge: 1.083
Aquarell mit Torhalle

Vom Himmel fällt verdünnte Tinte,
Verdigris von Rohrer & Klingner,
über Heidelberg verteilt
mit einer Kalligraphie-Feder
Zumindest nach Lorsch,
zumindest einmal durch die Torhalle schieben
Der Matsch auf den Wegen
blockiert die Mechanik
meiner 2-Gang-Schaltung
reduziert sie
zur 1-Gang-Schaltung
Am Bahnhof Lorsch warten
wir keine fünf Minuten
Umstieg in Worms


Zähe Masse
Durch leere Mainzer Gassen
geht es sich entspannt, aber wehe,
du betrittst abends eine Weinstube,
oder das Gutenberg-Museum am Morgen

Die französischen Lehrer
lassen ihre Klasse laufen,
auch in einen laufenden
Vortrag in fremder Sprache

Druckerschwärze ist zäh
du kannst den Topf
fünf Minuten kopfüber halten
Sie fließt nicht heraus

Aus dem verdunkelten Raum
mit den Gutenberg-Bibeln
rempelt mich eine
amerikanische Gruppe

Meine schwarzen Blicke
an diesem Morgen tragen
bestimmt nicht bei
zur Völkerverständigung

Nächstes Mal später kommen,
empfiehlt der Aufseher am Selfie-Drucker
Wir streiten uns alle
um die Nachmittagsdienste



Wiesen statt Weinberge
Der Lieblingswinzer war bisher
ein Name auf einem Etikett
eine Marke aus dem Internet
Hier steht er im Lager und schimpft
auf die Radfahrer
auf den Klimawandel
auf die Bürokratie

Die Bürokratie?
Das ist die Arbeit nach der Arbeit
Kein Wunder, wenn keiner mehr Weinbauer sein will
Meine Tochter sagt, ich hab 30 Urlaubstage
und verdiene jetzt schon mehr als du
und kann ins Krankenhaus gehen, wenn ich krank bin


Der Klimawandel? Wir brauchen das Wasser
Er hat den Politikern schon
vor 20 Jahren gesagt, das Wasser
müssen wir einfangen,
da hieß es, ja klar, machen wir


Wieso die Radfahrer? Obacht, sage ich,
wir sind Radfahrer,
fühle mich mitgemeint

Ich bin auch Radfahrer, sagt er
Aber wenn er mit dem Trecker durch den Weinberg fährt,
wird er beschimpft als Giftspritzer
Das können Sie trinken, sage ich denen,
das ist nur Backpulver
Dann sagen die, das glaub ich Ihnen nicht


Er hat keine Nachfolgerin
Die Leute trinken keinen Wein mehr
In der Zeitung stand zuletzt Wiesen
statt Weinberge
, das zitiert er
zweimal

Wir bekommen für unseren Gutschein
zwei Flaschen vom Besten
(er ist kein hochpreisiger,
preisgekrönter Winzer,
eher ein bodenständiger)

Ich fotografiere die Übergabe
Er lässt es sich nicht nehmen,
das Lager aufzuräumen fürs Bild
Ich kann auch lachen
nicht nur schimpfen



Name geändert, d. Red.
Was ich aufschreibe,
hab ich gefunden
dann neu erfunden

Es gibt diese Band,
auch das kleine Geschäft,
die Not in der Notaufnahme,
und wirklich noch Winzer

Ich habe sie auf Papier rekonstruiert
nach bestem Gewissen, oder vielmehr
mit schlechtem Gewissen:
wie kann ich es wissen

Eigentlich erfinde ich
lieber vergangene Zeiten,
ein persönliches Mittelalter,
obwohl das auch fast vorbei ist

Nichts stimmt,
alles schwimmt
oder sinkt


Die Dame nebenan
Sie kennt Fortuna Ehrenfeld nicht
Sie geht oft ins Unterhaus,
sieht unbekannte Künstler

Und dann nuschelt der
so seltsame Texte

Eine Mischung, sagt sie,
aus Herbert Grönemeyer
und Konstantin Wecker

Und dann alle:
zensiert zensiert Hurensohn


Wein und Wasser
Fortuna Ehrenfeld
solo am Klavier
Martin Bechler tritt auf
mit Iro und Rotwein

Das schlechtestbesuchte
Konzert der Tour
Vor dem ersten Ton
der erste Schluck

Wenn der Winzer sagt,
niemand trinkt mehr Wein,
kann Martin Bechler
nicht gemeint sein

Er verspricht, so zu spielen,
dass die es bereuen
die nicht hier sitzen
auf den leeren Stühlen

Bechler verspielt
sich immer öfter
Nach der Pause
trinkt er Wasser

Bechler berichtet
von Konzerten in Orten
wo 60 Prozent
Faschisten wählen

Nicht die 800
im Publikum,
aber die am Einlass
und an der Garderobe

Dann erzählt Bechler
eine Parabel
über eine Alice
und über Verführung

Ich geb die Geschichte
hier nicht wieder,
es ist schließlich seine
Ich sag nur das eine

Das Ende bleibt offen
Bechler schweigt
Gedanken strömen
oder tropfen

Ein wenig zu lange
für manche im Saal
Eine Stimme hallt:
Und dann?


Aufbruch
Und nun?, frage ich,
als am nächsten Morgen
der Regen Synkopen
aufs barocke Dach klopft

wie ein defekter Drum-Computer
Wo fließt er hin,
versickert oder heilt,
steht ab und stinkt

oder fließt und reißt mit?
Macht er auch mal kehrt?
Wo und wann?
Was dann?


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